Bericht Ratgeberaktion „Reifungskrisen“ am 23.10.2014

Wenn Kinderseelen um Hilfe schreien

Leserfragen Ratgeberaktion „Reifungskrisen“ am 23.10.2014

Meine Tochter ist von einem einjährigen Schüleraustausch mit 25 Kilo mehr an Gewicht zurückgekommen. Inzwischen hat sie zwar das Abitur gemacht, aber bekommt ihr Studium und ihr Leben nicht in den Griff …

Prof. Dr. med. Marcel Leon Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Würzburg: Eine recht plötzliche Veränderung des Körpergewichts kann verschiedene Gründe haben. Zunächst sollte der Hausarzt eine körperliche Untersuchung durchführen, um keine Erkrankungen zu übersehen. Jedoch kann eine erhebliche Gewichtszunahme auch Ausdruck einer psychischen Belastung sein. Wenn die Stimmung durchgängig gedrückt ist und der Alltag nicht mehr gelingt, kann eine depressive Erkrankung dahinter verborgen sein.

Unser Sohn macht jedes Wochenende Party und geht kaum noch zur Uni. Auch unter der Woche ist er öfter betrunken. Was kann ich tun?

Prof. Dr. med. Romanos: Bei übermäßigem Alkoholkonsum ist es wichtig, die Problematik zu erkennen und beim Namen zu nennen. Sprechen sie ihre Sorgen aus. Ein erster niederschwelliger Weg kann der Gang in die Suchtberatungsstelle sein. Manchmal kann auch der Hausarzt oder eine Vertrauensperson den Betroffenen dazu motivieren, sich professionelle Hilfe zu holen.

Unsere Tochter war ein Frühchen und ist mit der ganzen Entwicklung spät dran. Seit sie 21 ist, stresst sie uns in jeglicher Hinsicht – man könnte meinen, sie käme jetzt erst in die Pubertät. Kann das sein?

Prof. Dr. med. Marcel Leon Romanos: Manche Kinder sind in der Entwicklung tatsächlich etwas verspätet. Andererseits sollte man auch daran denken, dass Appetitverlust und vermehrte Reizbarkeit Zeichen einer depressiven Entwicklung sein können. Gerade in Lebensphasen, in welchen wichtige Entwicklungsschritte genommen werden müssen (z.B. Verselbständigung oder Einstieg ins Berufsleben) können belastend sein und auch zu Überforderung führen. Um nichts zu übersehen, könnten Sie einen Psychiater oder Psychotherapeuten um Rat fragen.

Die Tochter meines Lebensgefährten leidet offensichtlich an Magersucht. In der Familie wird das Thema bagatellisiert – wie kann ich helfen?

Prof. Dr. med. Claudia Mehler-Wex, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Chefärztin der Hemera-Klinik in Bad Kissingen: Zeigen Sie der jungen Frau, dass Sie sich für sie interessieren, und suchen Sie das Gespräch. Magersucht definiert sich nicht nur über Untergewicht. Oft meiden die Betreffenden gemeinsame Mahlzeiten, versuchen aktiv ihr Gewicht weiter zu reduzieren, Sie haben Angst vor der Waage und schätzen sich selbst als viel zu dick ein. Betroffene empfinden es oft als hilfreich, wenn sie Aufmerksamkeit erfahren und Adressen von Psychotherapeuten, Psychologen oder Psychiatern vermittelt bekommen.

Meine Eltern haben sich sehr ins Zeug gelegt, damit ich Jura studieren kann. Nach mehreren versiebten Klausuren wächst mir zunehmend alles über den Kopf …

Prof. Dr. med. Mehler-Wex: Wollten Sie selbst Jura studieren oder erfüllen Sie nur die Erwartung Ihrer Eltern? Sie sollten sich an einen Psychotherapeuten oder Psychologen wenden, um Ihre eigenen Bedürfnisse kennenzulernen und diese in den Vordergrund zu stellen. Auch ein stationärer Aufenthalt in einer auf Heranwachsende spezialisierten Klinik für psychische Erkrankungen, wie die Hemera-Klinik in Bad Kissingen, kann hilfreich sein. Hier können sie sich Zeit für sich nehmen und intensiv daran arbeiten, Ihren beruflichen Weg zu finden, Ihre Ablösungsprozesse gegenüber den Eltern zu unterstützen und Ihre Selbstwertgefühle zu fördern.

Meine Tochter ritzt sich und neigt auch sonst zu selbstverletzendem Verhalten. Was genau kommt auf sie zu, wenn ich sie in eine Klinik gebe? Welche Therapiemöglichkeiten stehen zur Verfügung?

Prof. Dr. med. Claudia Mehler-Wex: Man arbeitet verhaltenstherapeutisch an negativen Überzeugungen und Gedankenverknüpfungen, die den Selbstwert vermindern. Ebenso wird auch das Schwarz-Weiß-Denken und der dysfunktionale Umgang mit Emotionen behandelt, der ein Filtern von Reaktionen oft nicht angemessen möglich macht. Die Impulskontrolle wird trainiert, Problemlösefertigkeiten und Strategien zum Konfliktmanagement vermittelt. Zudem werden Fähigkeiten eingeübt, die an Stelle des selbstschädigenden Verhaltens zum Spannungsabbau eingesetzt werden können. Stationär kann ganzheitlich auf weitere Faktoren aus Umfeld, Familie oder Schule/Arbeitsplatz eingegangen werden. Über einen therapeutischen Vertrag wird das selbstverletzende Verhalten reglementiert und zur Familienentlastung in neutrale professionelle Hände ausgelagert.

Meine Tochter bekommt von uns alles, was sie braucht. Aber in letzter Zeit hat sie auffällig viele neue Sachen – einmal wurde sie bereits beim Klauen erwischt, aber ich fürchte, dass sie es trotzdem nicht lässt …

PD Dr. phil. Christina Schwenck, Leitende Psychologin – Forschung in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Goethe-Universität Frankfurt a. M.: Sie sollten zunächst mit Ihrer Tochter ein offenes Gespräch führen. Stellen Sie eine angenehme Situation her und sorgen Sie dafür, dass nur Sie (und ihr Partner) anwesend sind. Schildern Sie fokussiert, worum Sie sich Sorgen machen. Achten Sie darauf, dass Sie keine Unterstellungen formulieren, nicht vorwürflich sind und bei dem einen Thema bleiben, um das es geht. Bieten Sie Ihrer Tochter Hilfe und Unterstützung an, auch wenn sie nicht unmittelbar in der Lage ist, diese anzunehmen.

Ich habe in Kürze Zwischenprüfungen. Doch je näher der Termin rückt, desto weniger kann ich mich konzentrieren. Ich bin sicher, dass ich sowieso durchfallen werde, und fühle mich wie gelähmt. Wie soll das weitergehen?

PD Dr. phil. Schwenck: Angst vor bestimmten Situationen wie Prüfungen ist etwas ganz Normales. Ein mittleres Angstniveau steigert sogar die Leistungsfähigkeit. Ist die Angst jedoch sehr stark ausgeprägt, tritt der gegenteilige Effekt ein: Man fühlt sich gelähmt, kann sich nicht auf den eigentlichen Lernstoff konzentrieren und bekommt die negativen Gedanken an ein mögliches Versagen nicht mehr in den Griff. Wenn man unter Ängsten von diesem Ausmaß leidet, sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Beispielsweise bieten viele Hochschulen/Studentenwerke spezielle Lernberatungen und Prüfungscoachings an.

Ich habe den Verdacht, dass mein ältester Sohn heimlich Drogen nimmt. Sein Verhalten ist seit einiger Zeit sehr komisch. Was sind bekannte Anzeichen, an denen man das erkennen kann?

PD Dr. Phil. Christina Schwenck: Es gibt zwar einzelne Hinweise auf Drogenkonsum wie zum Beispiel, dass das Kind größere Geldbeträge entwendet, um die Drogen zu finanzieren, oder Utensilien, die auf Drogenkonsum hindeuten. Aber kein Hinweis wird Ihnen volle Gewissheit geben können. Deshalb würde ich Ihre Sorge offen mit Ihrem Sohn ansprechen. Warten Sie auf eine ruhige Minute und formulieren Sie Ihren Verdacht nicht als Vorwurf, damit er nicht „zu macht“.

Mein Sohn war immer schon ein Einzelgänger. Aber inzwischen wird er in der Schule gemobbt und war wohl in den vergangenen Wochen nur sporadisch beim Unterricht. Doch ich komme nicht an ihn ran …

Wolfgang Deimel, Leitender Psychologe in der Hemera-Klinik, Privatklinik für Seelische Gesundheit in Bad Kissingen: Beginnende Schulvermeidung kann sehr schnell so gravierend werden, dass eine ambulante Behandlung nicht mehr ausreicht. Auch ist es häufig so, dass wegen der emotional aufgeladenen Situation innerhalb der Familie nicht mehr konstruktiv darüber gesprochen werden kann. Aus diesen beiden Gründen ist eine sehr schnelle Kontaktaufnahme zu einer jugendpsychiatrischen Institutsambulanz zu empfehlen.

Meine Tochter ist 13 und hat ständig Angst an Krebs zu erkranken. Sie kann oft deshalb nicht schlafen und wacht schweißgebadet auf. Ist dieser Zustand eine Phase oder sollte ich einen Arzt aufsuchen?

Wolfgang Deimel: Das klingt, als würde sich eine Angststörung entwickeln oder bereits entwickelt haben. Ihr Kinder- oder Hausarzt kann Sie an eine jugendpsychiatrische Institutsambulanz überweisen oder Sie können selbstständig zu einer Beratungsstelle gehen. Hier wird dann geklärt, ob eine Indikation zur psychotherapeutischen Behandlung vorliegt und welche Form (ambulant, stationär) geeignet ist. Im Falle einer Angststörung ist es wichtig, möglichst schnell in Behandlung zu kommen, denn eine Angststörung wird man umso schlechter wieder los, je länger sie bereits besteht.

Mein Enkel ist wegen AHDS in ambulanter Therapie. Der Arzt rät inzwischen zu Tabletten. Gibt es keine Alternativen?

Wolfgang Deimel: Medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung sind bei ADHS in der Regel keine Alternativen, sondern können sich in vielen Fällen sinnvoll ergänzen; dies nennt man multimodale Behandlung. Ein wichtiger Vorteil von medikamentöser Behandlung ist der praktisch sofortige Wirkungseintritt, der helfen kann, eine bereits eskalierte Situation zu entschärfen. Ein wichtiger Vorteil von Psychotherapie ist, dass über die reine Behandlungszeit hinaus langfristig Strategien zum Umgang mit der Problematik gelernt werden.